NEUES LEITMOTIV

Die New Paradigm Papers des Monats November

Einmal im Monat präsentiert das Forum New Economy eine Handvoll ausgewählter Forschungsarbeiten, die den Weg zu einem neuen Wirtschaftsparadigma weisen.

VON

SONJA HENNEN

VERÖFFENTLICHT

3. NOVEMBER 2022

LESEDAUER

6 MIN

Die deutsche Industriestrategie 2030, die EU-Wettbewerbspolitik und die Krise des neuen Konstitutionalismus. Die (geo-)politische Ökonomie eines umstrittenen Paradigmenwechsels

Etienne Schneider

Welche Art von Industriepolitik ist notwendig, um den Verwerfungen zu begegnen, die durch die Globalisierung, geopolitische Rivalitäten oder die Klimapolitik zu entstehen drohen? Im Jahr 2019 hat die Bundesregierung mit der Nationalen Industriestrategie 2030 den Versuch einer Antwort vorgelegt. Die NIS 2030 schlägt weitreichende, gezielte und strategische industriepolitische Interventionen vor, um „nationale und europäische Champions“ aufzubauen und die „industrielle und technologische Souveränität“ durch die Verlagerung globaler Wertschöpfungsketten zu fördern, und wird weithin als erheblicher Paradigmenwechsel in der Industriepolitik angesehen. Die im Dezember 2021 gebildete neue Bundesregierung hält in wesentlichen Punkten an der NIS fest und ergänzt sie durch einen „Transformationsfonds“ und einen „missionsorientierten“ Ansatz in der Forschungspolitik.

Welche Faktoren haben diesen offensichtlichen Paradigmenwechsel ausgelöst, insbesondere in einem Land, das für seine ordoliberale Haltung bekannt ist, vor allem in Bezug auf Industrie und Wettbewerb und die europäische Wirtschaftsintegration nach der Krise der Eurozone? Ein neues Papier von Etienne Schneider versucht, die treibenden Faktoren hinter der strategischen Neuausrichtung der deutschen Politik zu identifizieren. Auf der Grundlage von Regulierungs- und kritischer Staatstheorie, Experteninterviews sowie Handels- und Investitionsdaten rekonstruiert er die Krisentendenzen sowie die Interessen- und Akteurskonstellation, die diesen Wandel in Deutschland untermauert haben. Der Artikel argumentiert, dass die Ursprünge der Neuorientierung in umstrittenen Verschiebungen im deutschen Machtblock wurzeln, die durch zunehmende geopolitische Rivalitäten, Krisentendenzen der stark exportorientierten deutschen Wirtschaft, die technologische Entkopplung zwischen den USA und China sowie eine allgemeine Krise der liberalen Weltordnung entstanden sind. Die Studie zeigt auch, dass diese Neuorientierung sehr umstritten ist und nicht nur wachsende Spaltungen innerhalb des deutschen Kapitals entlang divergierender Wettbewerbspositionen und Internationalisierungsmuster offenbart, sondern auch offene Spannungen mit dem etablierten neoliberalen Rahmen der EU-Wettbewerbspolitik.

Neoliberalismus und Klimawandel: Wie der Mythos der freien Marktwirtschaft Klimaschutzmaßnahmen verhindert hat

Anders Fremstad, Mark Paul

In der Blütezeit der Marktgläubigkeit galten CO2-Preise als das beste Mittel zur Bekämpfung der Klimakrise. Heute hat sich das Blatt so weit gewendet, dass Wissenschaftler und Aktivisten dem Neoliberalismus zunehmend die Schuld dafür geben, dass es nicht gelungen ist, Treibhausgasemissionen zu reduzieren und zu einer klimaneutralen Wirtschaft zu gelangen. Ein neues Forschungspapier der US-Ökonomen Anders Fremstad und Mark Paul untersucht den theoretischen Zusammenhang zwischen dem Neoliberalismus und der Lähmung des Klimaschutzes. In dem Papier wird nachgewiesen, dass neoliberalere Länder bei der Bekämpfung des Klimawandels schlechter abschneiden, und es wird analysiert, wie drei Grundsätze der neoliberalen Politik und Ideologie – Deregulierung der Wirtschaft, Abbau öffentlicher Investitionen und Dezentralisierung der Demokratie – die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels in den Vereinigten Staaten behindert haben. Das Papier erörtert auch, wie der Green New Deal, der darauf abzielt, die Macht der Regierung zu nutzen, um groß angelegte öffentliche Investitionen und verbindliche Klimaregelungen für eine schnelle Dekarbonisierung durchzusetzen, einen entschieden anti-neoliberalen Rahmen darstellt.

Exit, Control, and Politics: Structural Power and Corporate Governance under Asset Manager Capitalism

Benjamin Braun

Das Wesen der Finanzmarktmacht ist eine entscheidende Frage nicht nur für die politische Ökonomie des Kapitalismus, sondern auch für Fragen der Ungleichheit. Doch wie mächtig sind Asset Manager? Traditionell gilt der Finanzsektor als mächtig, weil er in der Lage ist, Kapital aus Unternehmen, Sektoren oder ganzen Ländern abzuziehen. Diese Art von Macht wird oft als Exit-basierte Macht bezeichnet und gewann in den 1990er Jahren mit der zunehmenden Finanzialisierung vieler Volkswirtschaften an Bedeutung.

In einem kürzlich erschienenen Beitrag argumentiert Benjamin Braun, dass diese Macht des Finanzsektors gegenüber dem Nicht-Finanzsektor nicht mehr vorherrschend ist. Makroökonomische Entwicklungen und Finanzinnovationen haben die Ausstiegsmöglichkeiten der Finanzakteure verringert. Gleichzeitig konzentrieren sich Aktien und andere große, illiquide Kapitalbeteiligungen stärker in den Händen von großen Vermögensverwaltern. Heute gründen Venture-Capital-Firmen Start-up-Unternehmen und verwandeln alles, von Unternehmen bis hin zu Wohnungen und Infrastruktur, in Anlageklassen. Während dies immer neue Bereiche der Wirtschaftstätigkeit für Finanzinvestitionen erschließt, büßen Asset Manager im Tausch gegen Eigentumsrechte die Möglichkeit des einfachen Ausstiegs gegen eine neue Form der kontrollbasierten, strukturellen Macht ein.

In seiner Analyse zeigt Braun die Gründe für diese Verschiebung auf und untersucht, ob sich der Wechsel von Ausstiegs- zu Kontrollmacht auf die Fähigkeit der Finanzakteure auswirkt, ihre Macht auszuüben, oder auf die Ziele, die sie verfolgen. Er kommt zu dem Schluss, dass die größten Asset Manager an einem mehrstufigen Spiel beteiligt sind, das neben der Unternehmensführung auch die Regulierungspolitik und den Markt für Vermögensverwaltungsdienste umfasst. Dadurch wird ihre auf Kontrolle basierende Macht sichtbarer und damit leichter angreifbar und politisierbar. Heute, so der Autor, sind viele Asset Manager hin- und hergerissen zwischen den übergeordneten Zielen der Maximierung von Vermögenswerten und der Minimierung politischer und regulatorischer Risiken, was sich am besten in der Debatte um ESG und dem Versagen der Großaktionäre zeigt, das Verhalten der Unternehmen in Richtung Dekarbonisierung zu lenken.

Wellbeing economy: An effective paradigm to mainstream post-growth policies?

Lorenzo Fioramonti , Luca Coscieme, Robert Costanza, Ida Kubiszewski , Katherine Trebeck, Stewart Wallis , Debra Roberts, Lars F. Mortensen, Kate E. Pickett, Richard Wilkinson, Kristín Vala Ragnarsdottír , Jacqueline McGlade, Hunter Lovins, Roberto De Vogli

Eine Wellbeing-Economy (WE) ist eine Ökonomie, die nicht nur auf die Steigerung des BIP ausgerichtet ist, sondern das menschliche und ökologische Wohlergehen auf einer breiteren Ebene anstrebt. In den letzten Jahren hat das Konzept der Wohlfahrtsökonomie bei politischen Entscheidungsträgern, der Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen wie der OECD zunehmend an Unterstützung gewonnen. In den letzten Jahren haben mehrere nationale Regierungen das Konzept der Wohlfahrtsökonomie als Leitrahmen für die Gestaltung der Entwicklungspolitik und die Bewertung des sozialen und wirtschaftlichen Fortschritts übernommen. Aber hat der WE-Ansatz das Potenzial, sich als universelles Rahmenwerk durchzusetzen – nicht nur in Industrie-, sondern auch in Entwicklungsländern? Ein kürzlich erschienener Beitrag von Lorenzo Fioramonti et al. versucht, diese Frage zu beantworten. Bei der Analyse der wichtigsten Merkmale von WE kommen die Forscher zu dem Schluss, dass das Konzept zwar eine Reihe von Grundprinzipien mit anderen Postwachstums-Strömungen teilt, seine Sprache und seine Grundsätze jedoch besser an verschiedene wirtschaftliche und soziale Kontexte angepasst werden können, so dass es sich über Kulturen hinweg durchsetzen und politische Prozesse durchdringen kann, da es an Werte und Konzepte anknüpft, die von einer Reihe von Gesellschaften geteilt werden. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der WE-Rahmen bisher wirksam dazu beigetragen hat, einen Wandel in Institutionen und in der Gesellschaft insgesamt anzustoßen, und somit eine der wirksamsten Grundlagen für die Durchsetzung von Postwachstumsstrategien auf nationaler und globaler Ebene und in Ländern mit unterschiedlichem Industrialisierungsgrad sein könnte.

Die wirtschaftliche Basis der europäischen Demokratie

Pepijn Bergsen, Leah Downey, Max Krahé, Hans Kundnani, Manuela Moschella and Quinn Slobodian

Die Demokratie in Europa ist bedroht. Ein neues Policy Paper versucht nun, die vielschichtigen Entwicklungen zu analysieren, die die europäische Demokratie bedrohen, indem es über die Analyse von Politik und Populismus hinaus auf die Struktur der europäischen Volkswirtschaften und die Wirtschaftspolitik als Ganzes blickt. Ein Verständnis der Bedrohungen der europäischen Demokratien ist von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass die notwendigen Transformationen, einschließlich des Übergangs zu einer klimaneutralen Wirtschaft, gerecht gehandhabt werden und nicht zu massiven politischen Gegenreaktionen und sozialen Unruhen führen. Die Autoren legen dar, dass die jahrzehntelange Zunahme der wirtschaftlichen Ungleichheit und des Wohlstandsgefälles zu einer wachsenden politischen Ungleichheit geführt hat, da Wirtschaftspolitik vermehrt den Interessen der Wohlhabenden diente. Sie stellen außerdem fest, dass die Ausweitung technokratischer Formen des Regierens – insbesondere durch unabhängige Zentralbanken und Institutionen auf EU-Ebene – in vielen Fällen die politischen Präferenzen bestimmter Gruppen in Institutionen verankert hat, die der direkten demokratischen Kontrolle entzogen sind. Infolgedessen hat sich die demokratische Anfechtung der Wirtschaftspolitik allmählich verringert und die Politik für eine zunehmende Polarisierung in kulturellen Fragen geöffnet. Die Autoren kommen daher zu dem Schluss, dass die europäische Demokratie nur durch eine „Repolitisierung“ der Wirtschaftspolitik, einschließlich der Fiskal- und Geldpolitik, gestärkt werden kann.

NEUES LEITMOTIV 17. OKTOBER 2022

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NEUES LEITMOTIV 8. AUGUST 2022

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Nach ein paar Jahrzehnten allzu naivem Marktglaubens brauchen wir dringend neue Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit – und mehr: ein ganz neues Paradigma als Leitfaden. Wir sammeln alles zu den Leuten und der Community, die sich mit dieser großen Frage beschäftigen, sowie mit der historischen wie heutigen Wirkung von Paradigmen und Narrativen – ob in neuen Beiträgen, Auftritten, Büchern und Veranstaltungen.

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